Die sensible Phase der Bewegung
Ein Kind im Alter von 0 bis 3 Jahren ist besonders sensibel für die Bewegung, es hat einen Drang, sich zu bewegen: Das reicht von der simplen Bewegung der Arme in der Wiege, dem Ertasten von Gegenständen, der Mundbewegung beim Erzeugen von Geräuschen über das Krabbeln, Gehen oder Laufen bis hin zu diffizileren Hand- und Fingerbewegungen. Dies alles sollte man ihm auf jeden Fall ermöglichen und Bewegung fördern, und zwar indem man das Kind nicht im Laufstall oder Hochstuhl „parkt“, sondern ihm die Freiheit lässt, sich überall dorthin zu bewegen, wohin es möchte (wie das zu Hause konkret aussehen kann, darauf gehen wir in einem weiteren Artikel ein, der demnächst erscheint).
Kinder ahmen ihre Eltern nach – in allem, was diese tun. Selbst kleine Knirpse putzen und feudeln mit Vorliebe und tun dies – wie viele andere Tätigkeiten – akribisch genau. Deshalb gehört Lernmaterial mit Übungen des täglichen Lebens zu einer Montessori-Krippe. Die Kinder verrichten lauter praktische und nützliche Dinge und haben jede Menge Spaß daran. Ganz nebenbei merken sie, dass sie in der Lage sind, dieselben Tätigkeiten auszuführen wie ihre Eltern.
Neben einem Außengelände mit Spielplatz, das zu einem Kinderhaus gehören sollte, wo die Kinder auf Dreirädern oder Tretautos herumfahren können, und Ausflügen in einen nahegelegenen Wald oder Park gehören zum großen Komplex der Bewegung auch die einfachen Tätigkeiten: das Gießen von einem Gefäß in ein anderes zum Beispiel. Kleinere Kinder gießen zuerst einmal Sand und Reis hin und her, später dann Wasser, und üben damit ihre Bewegungskoordination.
Ermöglicht man Kindern diese Bewegung nicht, hat das nicht nur körperliche, sondern auch geistig-intellektuelle Folgen (mehr dazu im Artikel „Couchpotatos – warum Kinder unter Bewegungsmangel noch stärker leiden als Erwachsene“).
Die sensible Phase der Ordnung
Sehr zum Leidwesen der Eltern ist mit Ordnung nicht gemeint, dass Kinder in dieser Zeit besonders gern ihr Zimmer aufräumen und keine Sachen mehr herumliegen lassen. Es geht zum einen um eine zeitliche Ordnung: um einen bestimmten Tagesablauf, Regeln, Strukturen und Rituale. Nach dem Essen wird Zähne geputzt, vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen. – Aber auch um konkrete Zeiten, in denen die Mahlzeiten zu sich genommen werden und damit um Vorhersehbarkeit.
Auch die räumliche Ordnung ist gemeint: Viele Dinge im Haus haben ihren festen Platz. Das kann auch für die Sitzordnung in der Couchecke gelten: Sitzt plötzlich Besuch auf dem Platz von Mama, kann das Kind in Aufregung geraten, bis der Missstand behoben ist (sofern die Beteiligten die Zusammenhänge erkennen). Ähnliches kann passieren, wenn Dinge nicht an ihren vorbestimmten Platz zurückgestellt werden. Das Kind braucht diese Ordnung; sie ist ihm sehr wichtig und gibt ihm Halt, auch wenn die Rituale und Regeln sich von Familie zu Familie unterscheiden. Deshalb haben alle Lernmaterialien im Kinderhaus ihren festen Platz.
Auch zu Hause sollte man das Kind dazu ermuntern, sein Zimmer in Ordnung zu halten: Spielzeug wegzuräumen, bevor es sich Neues holt. Aber auch das Spielzeug selbst sollte ordentlich im Regal platziert werden und nicht einfach in einer großen Spielzeugkiste verstaut sein; dann nämlich kann es passieren, dass das Kind das Interesse verliert.
Fördert man diese Ordnung, wird den Kindern dies später, wenn es um die Mathematik geht, sehr helfen; dort spielt das Thema Ordnung nämlich ebenfalls eine wichtige Rolle. Deshalb sollten Eltern hier auch Vorbilder sein: Räumen sie ihre eigenen Sachen nicht weg, können sie es auch nicht von ihren Kindern erwarten.
Die sensible Phase der Sprache
„Utschi-butschi, dadadaaa. Schau mal, da ist ein Wauwau!“ – Erwachsene sprechen mit Kindern oft in einer stark vereinfachten, lautmalerischen Sprache, weil sie ihre geistigen Kapazitäten als nicht sehr hoch einschätzen. Davon hielt Maria Montessori gar nichts, war es doch ein bloßes Nachäffen von Lautäußerungen eines Kindes, die noch nicht ganz gelungen waren. Sie zitiert in einer ihrer Schriften die Beobachtung belgischer Psychologen, dass Kinder im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren in etwa zwei- bis dreihundert Wörter kennen, wohingegen es vier Jahre später schon Tausende von Wörtern sind, die das Kind ganz spontan, ohne Unterricht erworben hat. Nun, nachdem das Kind diese Meisterleistung vollbracht hat, wird es an eine Schule geschickt, damit ihm jemand dort das Alphabet beibringt.
Und tatsächlich ist das Alter bis zum vierten Lebensjahr die Periode, nach der ein Kind eine Sprache so perfekt beherrscht, wie es später ohne Unterricht kaum noch möglich sein wird. Und das von ganz allein – wenn es in der sensiblen Phase der Sprache zuerst einmal sehr lange den Erwachsenen lauscht, bevor es selbst zu sprechen beginnt.
Zweite Unterphase: 3 bis 6 Jahre
Im Alter von 3 Jahren beginnt für das Kind wieder eine komplett neue Phase: Das unbewusste Lernen und Aufnehmen von Eindrücken wird zu einem bewussten. In dieser Zeit kommt das Kind in den Kindergarten. Es ist so, als würde das Leben an dieser Stelle von Neuem beginnen.
Nun wird alles, was im Unterbewusstsein des Kindes verankert ist, verarbeitet und bewusst gemacht. Das Kind ist im Prozess, seine Fähigkeiten zu vervollkommnen. Im Kinderhaus geschieht dies vor allem durch die „Sinnesmaterialien“, also Übungsmaterialien, die didaktisch aufbereitet sind und verschiedene Sinne ansprechen.
Maria Montessori hat gerade für diese Phase sehr viele genau durchdachte Materialien ausgearbeitet, weil sie der Meinung war, dass gewöhnliches Spielzeug weitestgehend nutzlos sei, das Kind stattdessen etwas bräuchte, das seine Intelligenz anregt. Gerade dafür und für ihre Erkenntnisse zu dieser Entwicklungsphase des Kindes ist Maria Montessori weltbekannt, hier hat sie im Bereich der Pädagogik Berühmtheit erlangt.
In dieser Lebensphase zeigt sich das Kind besonders sensibel für das soziale Miteinander: Es schließt Freundschaften und geht soziale Bindungen ein.
Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren
Mit 6 Jahren tritt ein Kind in eine neue Lebensphase ein, hier beginnt wieder einmal etwas Neues. Nicht zufällig greift ab diesem Alter die Schulpflicht. Die Phase ist keine nahtlose Fortsetzung der vorherigen.
Kinder haben in diesem Alter einen großen Bildungshunger, geben sich nicht mehr mit Einzelerkenntnissen ab, sondern möchten Zusammenhänge und Ursachen erkennen und einen Überblick gewinnen. Hinzu kommt, dass sie immer mehr in der Lage sind zu abstrahieren; ihre Vorstellungskraft ins enorm. So können die Lerninhalte vom Konkreten zum Abstrakten übergehen.
In dieser Phase sollte man Kindern möglichst viele verschiedene Gebiete vorstellen. Welche davon ihr Interesse tatsächlich wecken – vielleicht auch erst in späteren Jahren – wird sich herausstellen. Die kleinen Entdecker sollten sich die jeweiligen Themen möglichst aktiv erarbeiten, denn nur so verstehen sie von Grund auf, wie etwas funktioniert, und haben echtes Interesse.
Leider passiert das in der Regelschule nicht: Die Kinder entdecken nicht Dinge, auf die sie von selbst kommen würden, sondern diejenigen, die der Lehrer sie entdecken lassen möchte. Der Stoff wird meist dargeboten und von den Kindern passiv konsumiert (siehe hierzu auch den Artikel „Lernen muss geil werden“ – von Fingerspielen und Laptops). Zudem lernen sie in der Schule viele Dinge, die für ihre Lebensrealität keine Bedeutung haben. Das ist an den Montessori-Schulen anders. In Deutschland herrscht dort oft eine Mischform vor: zwischen freiem Lernen und einen Stundenplan, der bestimmte Fächer abdeckt.
In dieser Lebensphase beginnen Kinder, sich von ihren Eltern zu distanzieren. In ihnen erwächst das Bedürfnis, den eng gesteckten familiären Bereich nach und nach zu verlassen. Wichtig wird, sich eine eigene Meinung zu bilden. In diesem Alter sind für Kinder neben Sport- und anderen gemeinschaftlichen Freizeitkursen die Pfadfinder eine ideale Freizeitbeschäftigung, da sie darin eine Gemeinschaft finden, die Dinge erlebt, nützliche Dinge tut und sich viel an der frischen Luft bewegt.
Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren
Wie die erste Entwicklungsphase des Kindes ist auch die dritte eine formative: Das Kind wird langsam zum Erwachsenen. Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung.
Diese Phase steht im Zeichen der Freiheit und Unabhängigkeit, auch wenn es uns als Eltern oftmals widerstrebt, dass unsere Kinder zunehmend unabhängig von uns werden. Doch damit ein Jugendlicher sich eigenständig weiterentwickeln, sich selbst kennenlernen und selbst finden kann, müssen ihm seine Eltern ausreichend Freiheit einräumen und ihn nicht zu sehr an die Familie binden.
Der Jugendliche macht erste Schritte auf dem gesellschaftlichen Parkett. Die Altersgenossen werden wichtiger, ob als Kameraden aus dem Sportverein, in der Band, wo der Jugendliche Musik macht, oder im Freundeskreis. Ein Wir-Gefühl entsteht. Die Heranwachsenden bilden sich eine eigene Meinung, treten dafür ein, widersetzen sich den Erwachsenen – vor allem Eltern und Lehrern.
Zugleich ist dies aber auch eine labile und unruhige Phase, in der sich die Jugendlichen psychisch stark verändern. Sie sind noch unsicher, zweifeln an sich, zeigen teilweise Ängste. Daneben entwickeln sie in dieser Zeit Mitgefühl für ihre Mitmenschen, werden fürsorglich.
Für diese Phase der kindlichen Entwicklung hat Maria Montessori den „Erdkinderplan“ ausgearbeitet. Ihre Idee war, Kinder ins Erwachsenenleben zu entlassen, die nicht nur etwas im Kopf haben, sondern auch anpacken können. Und umgekehrt. Im Buch „Montessori-Pädagogik“ wird dies als „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ bezeichnet.
Die Reformpädagogin hat in dem Zusammenhang eine Art Internat ersonnen, zu dem ein Bauernhof, ein Hofladen und eine Gaststätte gehörten, die zum einen den Umgang mit Geld, aber auch wirtschaftliches Handeln vermitteln sollten. Die Jugendlichen lernten dort ökonomische Prozesse kennen. Zudem wurden sie auf diese Weise zu Selbstversorgern. Sie organisierten sich selbst, jeder übernahm Dienste im Haus und alle bekamen durch den angrenzenden Bauernhof zudem einen guten Einblick in die Ökologie.
Die Jugendlichen pflegten damit schon damals einen nachhaltigen Lebensstil, gingen einer produktiven Arbeit in der Natur nach und stellten sich den Herausforderungen, die das echte Leben an sie stellte – im Gegensatz zu ihren Altersgenossen an Regelschulen, die an ihren Schreibtischen Aufgaben lösten, die sich irgendjemand für sie ausgedacht hatte. Die Montessori-Schüler lernten das Leben in der Gemeinschaft kennen, losgelöst von ihren Eltern.
Bis heute existieren einige solche Internate. In den USA passte man sich mancherorts an die vorherrschenden Gegebenheiten an und erfand den „Urban Compromise“: Die Schüler besuchten zwar eine Schule in der Stadt, verließen diese aber immer wieder, um einige Zeit auf dem Land zu verbringen und dort zu arbeiten.
Polarisation der Aufmerksamkeit
Das, was Maria Montessori als „Polarisation der Aufmerksamkeit“ bezeichnete, wurde als „Montessori-Phänomen“ bekannt. Das Schlüsselerlebnis dazu beschreibt sie in ihren Werken: Sie beobachtete ein Mädchen, das ganz in seiner Tätigkeit aufging (es steckte einen Holzzylinder in eine Aushöhlung), wiederholte das Vorgehen unzählige Male und ließ sich von nichts stören, sogar als die Leiterin es darauf anlegte: Maria Montessori versuchte, die Tätigkeit des Mädchens zu stören oder es durch etwas abzulenken, ohne Erfolg. Erst als das Mädchen 44 Mal den Zylinder in die Öffnung gesteckt hatte, schaute es glücklich und zufrieden wieder hoch.
Das, was Maria Montessori hier erlebt hatte, widerspricht dem, was wir Erwachsene kennen und anstreben: Wir möchten bei allem, was wir tun, Zeit sparen, und versuchen deshalb, es möglichst effizient auszuführen. Das Kind hingegen wird nicht müde, eine Handlung zu wiederholen – und nimmt diese sehr ernst. Es schult dabei seine Sinne, trainiert seine Fähigkeiten und ist umso enthusiastischer bei der Sache, je schwieriger die Herausforderung scheint (wobei sie immer noch zu bewältigen sein muss).
Diese Konzentration auf eine Sache war für Maria Montessori ein zentraler Aspekt des Lernens, zumal Kinder sonst eher lebhaft und rastlos sind, umherrennen und sprunghaft von einer Tätigkeit zur anderen wechseln. Doch wie erreicht man diese Konzentration? Ähnlich wie bei Erwachsenen, die beim Joggen oder Bergsteigen in den Flow kommen, oder Wissenschaftlern, Forschern und Künstlern, die ganz in ihrer Tätigkeit aufgehen: Sie alle haben das, was sie tun, selbst gewählt und tun es gern.
So sollte man auch das Kind wählen lassen, womit es sich beschäftigen möchte – wie das in den Montessori-Kinderhäusern der Fall ist. Denn diese Art von Konzentration geschieht aus einem inneren Antrieb heraus und lässt sich nicht erzwingen. Wichtig ist, dass das Kind das, womit es sich beschäftigen möchte, in seiner Umgebung findet und dass dort, wo es „an die Arbeit“ geht, eine vertrauensvolle Atmosphäre herrscht.
Dann tritt eine tiefe Form der Konzentration ein, die durch die vielen Wiederholungen fast einen meditativen Charakter bekommt – wie bei einem Tanz in Trance. Das Kind sollte dabei nicht gestört werden, etwa durch Feedback, auch nicht positives – wir Erwachsenen mögen es ja ebenfalls nicht, wenn jemand uns über die Schulter schaut. Während das Kind seiner Beschäftigung nachgeht, bleibt die Zeit stehen; sein Zeitgefühl hat sich verändert. Bei dieser konzentrierten Tätigkeit fallen alle negativen Gefühle von ihm ab, sie werden – wie die übrige Umgebung – ausgeblendet.
Erst wenn das Kind eine innere Sättigung erreicht hat, unterbricht es das, was es die ganze Zeit getan hat, lässt die Eindrücke sacken, dankt darüber nach, was es erlebt hat – das neu erworbene Wissen und Können wird unbewusst verarbeitet. Dann ist die Zeit, sich eine neue Tätigkeit zu suchen.
Erleben Kinder diese Polarisation der Aufmerksamkeit immer wieder auf Neue, sind sie innerlich ausgeglichen und gestärkt, ruhen in sich. Innere Stille wirkt der heute immer häufiger auftretenden Überreizung entgegen und führt zur Achtsamkeit gegenüber dem Umfeld.
Maria Montessori hatte in diesem Zusammenhang eine Übung entwickelt: Mithilfe von Kreppband klebte sie einen großen Kreis auf den Fußboden. Die Kinder sollten hintereinander auf der Linie gehen. Nach kurzer Zeit passten die Kinder automatisch ihre Schritte einander an. Später bekam jedes ein Glöckchen in die Hand und sollte so auf der Linie gehen, dass es die anderen damit nicht störte, musste also besonders achtsam sein.
Gerade in unserer heutigen Zeit sind solche Übungen besonders sinnvoll – weil die Mehrheit eben nicht mehr achtsam ist. Man denke dabei an das laute Telefonieren in Bus und Bahn, das unsanfte Zuknallen von Türen im Wohnhaus, wo man auch leise sein könnte, sofern man den Schlüssel benutzt, das Stehenlassen von Hausschuhen im Hausflur. Rücksicht ist immer seltener geworden. Deshalb ist es gut, wenn diese Verhaltensweisen schon in der frühen Kindheit, wo es am häufigsten zur Polarisation der Aufmerksamkeit kommt, geübt werden.
Es geht ums Be-greifen
Im „Montessori Education Podcast“ von Jesse McCarthy erzählt Meredith Narrowe, die acht Jahre ihres Lebens in einer Montessori-Einrichtung verbracht hat, davon, dass sie dort viele taktile Erfahrungen machen konnte. Sie war da ab dem Alter von 2 Jahren und erinnert sich an sehr viele Details aus ihrer ersten Zeit im Kinderhaus, wohingegen Jesse McCarthy, der an seine frühen Kindergarten- und Schuljahre denkt, kaum Erinnerungen daran hat. Der Grund für den Unterschied mag an den sensorischen Erfahrungen liegen, die die eine machte, der andere aber nicht.
So wie das Wort „begreifen“ eng mit dem Verb „greifen“ zusammenhängt (und übrigens auch der „Grips“), hängen das französische „comprendre“ und das italienische „comprendere“ (begreifen) mit französisch „prendre“ und italienisch „prendere“ (greifen) zusammen. Das ist nicht zufällig so. Jüngere Forschungen aus dem Bereich der Neurowissenschaften belegen, dass wir in Bewegung viel besser lernen als ohne. Wobei mit Bewegung eben nicht nur der Sport und das Toben auf dem Spielplatz gemeint sind, sondern gerade auch die feinmotorischen Bewegungen der Hände. In unserem Hirn sind Hände nämlich überrepräsentiert. So ist gerade das Lernen, bei dem die Hände involviert sind, gehirngerecht.
Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.
Konfuzius (551–479 v. Chr.)
Auch Maria Montessori hatte das erkannt. Sie stellte unter anderem fest, dass Menschen, die nachdenken, ihre Hände bewegen – entweder kratzen sie sich an der Schläfe, rubbeln am Kinn oder gestikulieren bei einem Vortrag. Die Kinder, die Maria Montessori anvertraut wurden, ließ sie nicht nur über den Hör- und Sehsinn die Welt um sie herum begreifen (wenn sie etwa dem Lehrer zuhörten und sahen, was er an die Tafel schrieb), sondern mit all ihren Sinnen, ganz besonders dem Tastsinn. So entwickelte sie unter anderem das Sinnesmaterial (siehe weiter unten).
Sie entwarf Lernmaterialien für die verschiedensten Bereiche – ob Erdkunde, Rechnen oder Schreiben –, die die Kinder direkt ertasten konnten: die Buchstaben des Alphabets, kleine und große Zahlen, Landkarten und, und, und. Beim Lernen mit den Händen geht es nicht mehr nur um das reine kognitive Erfassen. Gerade wenn ganz kleine Kinder nur zuhören oder zusehen sollen, bleibt ihr Interesse oberflächlich. Gibt es etwas zum Anfassen, beginnen sie, sich aktiv für den Lerngegenstand zu interessieren – ihre Aufmerksamkeit schwindet nicht.[1] Das gilt auch für ältere Kinder. Es ist so, dass man von dem, was man nur gelesen hat, 20 Prozent behält. Hingegen behält man 80 Prozent von dem, was man getan hat.
Zudem ist es einfacher, Dinge zu lernen, die man selbst ausprobiert. Beim eigenen Versuch merkt ein Kind schnell, was noch nicht so gut läuft und was es in Zukunft vielleicht verbessern könnte. Es behält auch die Sachverhalte besser, die es selbst herausgefunden hat. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass Kinder, die eine Mahlzeit selbst zubereiten, diese eher essen, als wenn jemand anders ihnen die Tätigkeit abgenommen hätte. Deshalb bereiten die Kinder in den Kinderhäusern ihre Mahlzeiten selbst zu.
Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.
John Locke, 1632–1704
Bereits im NDR-Film „Vom Schwinden der Sinne“ aus dem Jahr 1992 wird thematisiert, dass Kinder zunehmend Koordinationsschwierigkeiten haben und als Folge dessen immer mehr Probleme mit dem Lernen – denn die geistige Entwicklung eines Kindes hängt stark von seiner körperlichen Entwicklung ab (vergleiche hierzu den Artikel „Couchpotatos – warum Kinder unter Bewegungsmangel noch stärker leiden als Erwachsene“). Im Buch „Montessori heute“ ist davon die Rede, dass unsere „Fernsinne“ wie das Hören und Sehen immer wieder beansprucht werden, während die „Nahsinne“ wie das Tasten eher verkümmern, weil wir nur noch wenig mit den Händen tun.
It’s the technology, stupid![2]
Kinder, die sich selbstständig und frei entwickeln, sollten die Möglichkeit haben, sich so früh wie möglich mit den neuen Technologien vertraut zu machen, oder? Schließlich gehören diese zum heutigen Leben einfach dazu. Diese Frage ist einfach zu beantworten: Nein.
Ein Kind, das mit 6 Jahren erstmals mit einem Computer in Berührung kommt, lernt noch immer früh genug den Umgang damit. Denn ein PC zählt nicht zu den didaktischen Materialien; er vermittelt keine Schlüsselerfahrungen – er ist ein bloßes Werkzeug.
Erst recht brauchen Kinder unter 3 Jahren keine moderne Technologie. Es ist, wie gerade beschrieben, zwingend notwendig, dass sie ihre Welt mit den Händen begreifen. Dies kann auf keinen Fall digital ersetzt werden. Und auch später sollte das Kind lieber „oldschool“ im Zeichenblock malen und im Schreibheft die ersten Schreibübungen ausführen, statt dies auf dem Handy oder Tablet zu machen – selbst wenn dort eine Montessori-App installiert ist. „Kürzt“ man hier ab, kann dies verheerende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben.
Simone Davies, Montessori-Podcasterin und -Autorin, hält ein paar praktische Tipps für Eltern bereit: Natürlich ist es in Ordnung, mit den Großeltern eine Videokonferenz abzuhalten, wenn diese weiter weg wohnen. Und es geht auch nicht darum, keinen Bildschirm in der Wohnung zu haben, um den Kindern eine perfekte Entwicklung zu ermöglichen (mehr zu diesem Thema im Artikel „Lernen muss geil werden – von Fingerspielen und Laptops“). Damit erreicht man nur, dass sie sich unter Kameraden abgehängt fühlen, wenn sie die neueste Serie oder das angesagte Computerspiel nicht kennen. Sie ermöglichte ihren eigenen Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren Zeit am Computer, am Anfang eine halbe Stunde täglich. Und natürlich würde sie einem Achtjährigen, der sich brennend für das Programmieren interessiert, nicht verbieten, diesem Interesse nachzugehen. Hier müssen die Eltern abwägen und so reagieren, wie es am besten in die Familiensituation passt.
Selbstständigkeit
„Hilf mir, es selbst zu tun“ ist wohl der bekannteste Satz, der mit der Montessori-Erziehung in Verbindung gebracht wird. Es war die Bitte eines Kindes an Maria Montessori – der sie sicherlich nachging. Was aber gar nicht selbstverständlich ist.
Beobachtet man Kinder, fällt auf, dass sie einander keine Dinge abnehmen oder eingreifen, wenn ein anderes Kind etwas nicht gleich schafft. Sie leisten keine unnötige Hilfestellung, solange dies nicht wirklich nötig ist. Da sind wir Erwachsenen anders: Eltern schränken ihre Kinder unabsichtlich ein, indem sie ihnen bei Dingen helfen, die sie im Grunde selbst können. Das schafft eine Abhängigkeit und schwächt das Selbstvertrauen des Kindes. Und zeugt im Grunde von wenig Respekt dem Kind gegenüber. Hingegen ist es ein großer Vertrauensbeweis, das Kind selbstständig Dinge entdecken zu lassen.
Und es führt zu tollen Ergebnissen: William Kelly, der 11 Jahre lang eine Montessori-Einrichtung besucht hat, erzählt im „Montessori Education Podcast“, wie er zusammen mit seinen Mitschülern als Sechstklässler einen Ausflug nach New York organisiert hat. Innerhalb des Schuljahrs bereitete die Klasse sich auf den Ausflug vor und recherchierte alles zu New York, das die Schüler später vor Ort erleben konnten. Sie planten vorab, wie sie sich in der Stadt von einem Ort zum anderen fortbewegen würden, bereiteten Vorträge zu den jeweiligen Plätzen vor, die sie besuchen würden, buchten Veranstaltungen. Fast der gesamte Ausflug wurde von den Sechstklässlern organisiert und ist dem Podcast-Gast lebhaft in Erinnerung geblieben.
Freiheit
Ein Vorurteil gegenüber den Montessori-Schulen und -Kinderhäusern ist, dass dort jeder machen kann, was er will. Dass dort Anarchie herrscht. Doch ist das tatsächlich so? Nein, es gibt dort keinen Freibrief zum Nichtstun. Eine Montessori-Schule ist auch keine demokratische Schule, wie wir sie in unserem Artikel „Eigentlich finde ich Schule ganz gut“ porträtiert haben. Es herrscht dort zudem keine Willkür. Zum einen endet die Freiheit des einzelnen Kindes dort, wo die Freiheit der anderen eingeschränkt wäre. Die Grenze der Freiheit ist das Gemeinwohl.
Man kann von einer strukturierten Freiheit sprechen, die die Kinder in den Einrichtungen genießen. Es herrscht dort eine Mischform zwischen der Freiarbeit, auf die wir später noch zu sprechen kommen, und gemeinsamen Erlebnissen, wenn die Kinder mit der Erzieherin im Kreis sitzen, sie vielleicht eine Geschichte vorliest und mit den Kindern darüber diskutiert.
Das einzelne Kind kann aber sehr wohl wählen, was es während des Tages essen und womit es sich in der Freiarbeit am liebsten beschäftigen möchte, was am meisten sein Interesse weckt. Denn niemand kann „gelernt werden“; man lernt immer nur selbsttätig.
Das Kind kann entscheiden, wie oft es die aktuelle Tätigkeit wiederholen möchte – je häufiger es sie ausführt, desto größer ist das Erfolgserlebnis dabei. Sobald das Bedürfnis, etwas Bestimmtes einzuüben und ein oder mehrere Erfolgserlebnisse dabei zu haben, gestillt ist, ist das Kind bereit für Neues und entscheidet autonom, was als Nächstes kommt. Vielleicht möchte es aber auch erstmal die anderen Kinder bei dem, was sie tun, beobachten und sich davon inspirieren lassen. Oder zusehen, wie im Herbst die Blätter vom Baum fallen. Auch das wäre eine legitime Entscheidung.
Später, in der Schule, wenn bestimmte Aufgaben anstehen, haben die Kinder die Freiheit zu entscheiden, wie sie sie lösen möchten. Dies kommt den unterschiedlichen Lerntypen zugute: Es gibt Menschen, die am besten lernen, wenn sie jemandem zuhören – und dieser den Sachverhalt vielleicht mehrmals auf unterschiedlichen Arten erklärt. Andere ziehen ihr Wissen aus einem Buch. Wiederum andere lernen am besten, wenn sie mit Mitschülern darüber sprechen. Natürlich gibt es noch weitere Lernformen und vor allem auch Mischformen – gemeinsam ist allen, dass sie in den Montessori-Einrichtungen angeboten werden. Wenn beim Lernen Fragen entstehen, werden sie vom Leiter direkt beantwortet und nicht erst, wenn es nach Lehrplan dran wäre.
Die Kinder haben also die Wahl, ob sie allein lernen möchten, mit einem Lernpartner oder vielmehr in der Gruppe. Und sie entscheiden, wo sie lernen: an einem Schreibtisch, auf einer Matte auf dem Fußboden, im Flur oder vielleicht im Freien.
Arbeiten die Kinder so, geht es insgesamt sehr diszipliniert zu. In den Räumen wird nicht gelaufen, gerangelt und es ist auch nicht sehr laut. Die Kinder sind bei ihren Tätigkeiten hochkonzentriert. Sie übernehmen Verantwortung für ihre eigene Bildung und haben die Freiheit, ihr Leben auf ihre eigene Art zu leben. Denn im Grunde wissen sie ganz genau, was gut für sie ist. Sie tragen eine Art „inneren Lehrer“ in sich, ähnlich dem „inneren Arzt“, der uns durch einen Selbstheilungsprozess unterstützt.
Baumeister seines Selbst
Nach Meinung von Maria Montessori trägt jedes Kind seinen Bauplan in sich, wobei nicht der genetische Bauplan gemeint. Sie sieht das Kind als Baumeister seines Selbst.
Deshalb bezeichnete sie ihre Pädagogik als Hilfe zum Leben: Das Kind kann so sein, wie es ist, und findet seine Identität in einem Prozess. Die Grundannahme der Montessori-Grundschule Nordheim-Nordhausen ist zum Beispiel: „Du bist einmalig.“
Der Montessori-Grundschule in Halle wiederum ist es wichtig, das Kind mit seinen Bedürfnissen zu sehen. Wenn es beispielsweise ein anstrengendes Verhalten zeigt, geht es nicht darum, sich zu fragen, warum das Kind so anstrengend ist, sondern warum es dieses Verhalten zeigt. Dieser Weg ist viel zielführender.
Kreativität
Kinder, denen volle Freiheit dabei gelassen wird, wie sie lernen, entwickeln Kreativität, eine Schlüsselkompetenz unserer Zeit (vergleiche hierzu den Artikel „Zwei plus drei ist violett“). Bereits die Entscheidungsfindung ist ein komplexer Prozess, der Kreativität erfordert. Manche Entscheidungen führen aber nicht zum gewünschten Ziel; dann muss das Kind neu entscheiden. Andere Wege funktionieren vielleicht ebenfalls nicht. In dem Fall ist es die Aufgabe des Kindes, selbständig herauszufinden, wie es gehen könnte – wiederum ein sehr kreativer Prozess. Die Kreativität liegt darin, Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn man dazu in der Lage ist, ist man für das Erwachsenenleben gut gewappnet.
Lösungen zu finden kann auch süchtig machen. Finden Kinder Geschmack daran, machen sie sich regelrecht auf die Suche nach Problemen, die sie lösen könnten, und werden darin immer besser. Kinder werden kreativ, wenn Erwachsene ihnen Zeit lassen, Dinge selbst zu entwickeln.
Einige Eltern, die darüber nachdenken, ihr Kind in eine Montessori-Einrichtung zu schicken, machen sich im Vorfeld Sorgen, dass es sich einseitig entwickeln könnte und dort wichtige Fähigkeiten nicht lernt. Dorine Derennes, die in Frankreich die Montessori-Einrichtung „Les Petits Montessoriens“ geführt hatte, erzählt von einem einzigen Fall, wo ein sechsjähriges Kind sich nicht für das Lesen interessiert hatte. Hier stellte sich die Frage, ob die Eltern Vertrauen in das Kind haben – oder ob man nachhelfen sollte. Die Familie und die Leiterin entschieden sich schließlich für einen Mittelweg: sanftes Anschubsen in die richtige Richtung und dem Kind darüber hinaus Zeit lassen. Diese Entscheidung war richtig: Das Kind lernte lesen; die Erleichterung war groß.
Generell sind Eltern niemals aus der Pflicht entlassen, vollkommen unabhängig von Lehrern individuelle Entscheidungen für ihr Kind zu treffen. Es gibt keine „Vollkasko-Lerneinrichtung“, um es mal salopp auszudrücken, die es den Eltern abnimmt, sich Gedanken über das Wohl der eigenen Kinder zu machen, denn nur Eltern verfügen über die Liebe, Hingabe und den Instinkt zu wissen, was ihre Kinder gerade brauchen und was für sie am besten ist. Diese Verantwortung und die damit verbundenen Entscheidungen kann eine Lerneinrichtung nicht abnehmen – und das soll sie auch gar nicht.
Entdeckerfreude
Welche Früchte das Lernen nach der Montessori-Methode tragen kann, erzählt Meredith Narrowe, die im Alter von 2 bis 10 Jahren ein Montessori-Kind gewesen ist, im „Montessori Education Podcast“: Alles, was sie als Kind gelernt hatte, wurde durch ihre Freude an Entdeckungen befeuert. Diese Freude führte sie sogar an die Stanford University – und von dort aus weiter.
Eines Tages schaute sie sich den animierten Film „Findet Nemo“ an, fand ihn toll, stellte aber auch fest, dass dort kein Element zufällig war. Ihre Neugier war geweckt. Sie fragte sich: Wie funktioniert das? Wollte alles darüber wissen. Und ging beruflich in den Bereich Animation. Jesse McCarthy, der Host des Podcasts, fasst das Montessori-Prinzip in dieser Folge so zusammen: „The why never dies.“ (Zu Deutsch: Das Warum stirbt nie.) Montessori-Kinder – und später auch -Erwachsene – fragen sich bei Phänomenen, die ihnen in ihrem Leben begegnen, nach dem Warum, haben eine unstillbare Neugier nach Wissen, die sie immer weiter vorantreibt.
Altersgemischtes Lernen
Auch hier beginnen wir mit einem Vorurteil: Montessori sei eine alternative Lernform, die nicht für jeden passt. Doch wie kann ein individuell auf das einzelne Kind abgestimmtes Lernen nicht zu jedem Kind passen, fragt Katy Wright. Denn genau das ist Montessori. Wright spricht in ihrem Vortrag von den allseits bekannten Regelschulen, in denen das gleiche Lerntempo für alle herrscht und wo die Schüler immer wieder Dinge lernen, die entweder zu leicht oder zu schwer für sie sind. Mancherorts gibt es das Modell der Ausdifferenzierung: Jeder macht dasselbe zur selben Zeit, nur auf dem für ihn passenden Level. Montessori geht noch einen Schritt weiter: Jeder macht das, was zu seinem Entwicklungsstand passt, und zwar in seinem eigenen Tempo. So ist kein Kind permanent überfordert und frustriert oder aber unterfordert und gelangweilt.
Wright plädiert dafür, die Altersspannen, die man von Kinderarztbesuchen her kennt – nach denen ein Kind in einer bestimmten Altersspanne über bestimmte Fähigkeiten verfügen sollte – auch auf die Schule anzuwenden.
Eine gute Idee wäre auch, das Kriterium des Alters in der Schule abzuschaffen; an seine Stelle sollten die Fähigkeiten treten. Das wäre viel natürlicher: Außerhalb der Schule hat kein Kind ausschließlich Umgang mit Gleichaltrigen – das gilt für den Sportverein oder aber für die Familie. Nur in der Schule sind Kinder nach Altersstufen unterteilt.
Die altersgemischte Lernform bringt lauter Vorteile mit sich: Es kommt zu Symbiosen zwischen jenen, die ihr Wissen teilen möchten, und jenen, die etwas lernen wollen. So entsteht ein gemeinsamer Lernprozess.
Diversität
Zudem wird dadurch das Verständnis für das Anderssein gefördert, denn innerhalb einer Montessori-Klasse wird es Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen geben, schon allein durch die Altersunterschiede. Die Kinder nehmen wahr, dass es normal ist, verschieden zu sein. Sie lernen, Leistungsunterschiede zu akzeptieren. So ist es einfacher, nicht nur behinderte Kinder in den Lernprozess zu integrieren, sondern auch hochbegabte. Hinzu kommt, dass Kinder, die schneller als andere lernen, nicht zur nächsten Schulstufe warten müssen, um neues Wissen zu erwerben, sondern die Möglichkeit dazu sofort haben. Diejenigen aber, die vielleicht langsamer sind, müssen keine Klasse wiederholen; sie bleiben einfach so lange in der Gruppe, bis sie sich das entsprechende Wissen ebenfalls angeeignet haben. Mit diesem Prinzip können Schulen der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft begegnen.
Bei einer Altersdurchmischung entstehen vielfältige Anlässe, sich gegenseitig zu helfen, miteinander zu kooperieren, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Die Kinder entwickeln Toleranz. Dadurch, dass immer neue jüngere Kinder nachrücken, werden die Gruppen nicht nur neu belebt, die Kinder durchleben auf ihrem Weg auch unterschiedliche Rollen: die des Jüngeren, des Mittleren und des Größeren. Dadurch erfahren sie, wie es ist, sich etwas erklären zu lassen, aber auch etwas zu erklären. Weil sich die Gruppenkonstellation in jedem Jahr aufs Neue verändert, bleibt keiner in seiner Rolle verhaftet – ob als Außenseiter oder Klassenliebling –, sondern hat immer wieder die Chance, etwas daran zu verändern.
Vorteile für jüngere Kinder
William Kelly hatte sein Montessori-Schlüsselerlebnis als 3-Jähriger: Er war dabei, als ein 2-Jähriger ihm und anderen aus einem Buch vorgelesen hat. Die kleinen Zuhörer waren begeistert und motiviert, ebenfalls lesen zu lernen.
Altersunabhängige Gruppen sind deshalb so wichtig, weil die Kleinen die Älteren genau beobachten und sie nachahmen. So entdecken sie vielleicht interessante Aufgaben, die eigentlich viel später drankämen, erhalten viele Anregungen. Sie lernen ganz nebenbei Dinge, die eigentlich für eine höhere Altersstufe vorgesehen gewesen wären. – William Kelly durfte im Montessori-Kinderhaus ebenfalls immer wieder in die höheren Klassenstufen hineinschnuppern. Dort haben die Gruppenleiter ihn nicht nur geduldet, sondern ihm bereitwillig auf seine Fragen geantwortet.
Ein weiterer Vorteil für die Kleinen ist, dass sie die Erklärung der älteren Kinder oftmals viel besser verstehen als die der Erwachsenen, weil die Sprache und Denkweise an ihrer eigenen näher dran ist. In der Jeanne-d’Arc-Schule in Roubaix, Frankreich, ist es daher auch so, dass die älteren Kinder den Neuankömmlingen zeigen und erklären, wie das Leben im Kinderhaus funktioniert. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, dass die neuen Kinder sich gut einleben. Dazu wird keine Erzieherin gebraucht.
Vorteile für ältere Kinder
Man könnte versucht sein, zu denken, ältere Kinder hätten durch die Altersmischung keinerlei Vorteile, da sie das meiste bereits können. Dabei profitieren auch sie davon, wenn sie den Kleinen helfen – nicht nur weil sie ihre Empathie und die sozialen Fähigkeiten entwickeln. Durch das Weitergeben ihrer Fähigkeiten gewinnen sie an Selbstsicherheit, erleben sich im Zusammenspiel mit den jüngeren Altersgenossen als reifer, agieren als Beschützer und übernehmen Verantwortung. Sie bemerken bei sich Fragen, die sie vorher nicht hatten. Erklären sie jemandem etwas, entstehen bei ihnen automatisch neue Fragen, denen sie nachgehen wollen – was wieder zu mehr Wissen führt. Wissen, von dem beide Seiten profitieren.
Ein Großer, der einem Kleineren etwas erklärt, hat es gelernt, Wissen weiterzugeben – was für unsere Gesellschaft von enormer Wichtigkeit ist und ganz und gar nicht selbstverständlich. Er hat gelernt zu kommunizieren. Außerdem erkennt er dadurch seine eigenen Fortschritte und festigt sein Wissen. Wir lernen besonders gut, wenn wir jemand anderem denselben Sachverhalt noch einmal erklären. Außerdem erkennen wir so, ob wir auch wirklich alles verstanden haben.
Kinder, die noch nicht so sicher sind oder Lernprobleme haben, bekommen dadurch die Möglichkeit, auf diese Weise bereits Gelerntes zu wiederholen, ohne sich die Blöße zu geben.
Warum Kinder beim Lernen mit der Montessori-Methode wichtige Schlüsselkompetenzen erwerben, liest du im dritten Teil unseres Artikels.
Alle Quellen findest du am Ende von Teil 3.
[↑] Auch zwischen dem Erfassen und dem (An-)Fassen besteht sprachlich ein Zusammenhang.
[↑] Deutsch: „Es geht um die Technologie, Dummerchen!“
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