Human Content – OHNE KI erstellt
Ein Abriss mehr oder weniger erfolgreicher Lehrmethoden – mit Perspektiven für Eltern.
Die Studie „Breakpoint and Beyond“ aus dem Jahr 1992 zeigte, dass 98 Prozent der teilnehmenden Kinder als genial – also kreativ – bezeichnet werden konnten, weil sie die entsprechenden Kriterien erfüllten. Die Tests wurden an 1.600 Kindern im Alter von 3 bis 5 Jahren durchgeführt. Kreativ bedeutet: Man findet für Problemstellungen mehrere unkonventionelle Lösungen. Kinder sind hauptsächlich deshalb so einfallsreich, weil sie keine Angst vor Fehlern haben. Doch was passiert, wenn man dieselben Kinder später untersucht? Genau das haben die Wissenschaftler getan. Heraus kam, dass die Kleinen mit fortschreitendem Alter immer mehr an Kreativität verloren. Von den Erwachsenen, die als Kinder getestet worden waren, galten im Alter von ca. 31 Jahren nur noch 2 Prozent als genial. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Hat die schulische Bildung die Vorstellungskraft der Kinder im Keim erstickt, wie es der britische Autor und Experte in Sachen Bildung und Kreativität, Ken Robinson, behauptet? Dieser Frage möchten wir im Artikel nachgehen und auch Wege aus diesem Dilemma aufzeigen.
Jedes 14. Kind in Deutschland hat nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Das ist aus der Sicht des renommierten Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer ein unhaltbarer Zustand. Denn unser Gehirn ist enorm lernfähig und gar nicht in der Lage, nichts aufzunehmen. Erst wenn 70 bis 75 Prozent aller Gehirnzellen abgestorben sind, sinkt die Leistung, vorher nicht. Spitzer nennt das Beispiel eines Mädchens, bei dem die linke Gehirnhälfte herausoperiert werden musste – dort sitzt das Sprachzentrum. Das Mädchen spricht heute trotzdem zwei Sprachen fließend. Warum also hapert es am Hauptschulabschluss bei Menschen, die ein intaktes Gehirn haben? Hier liegt das Problem: Das Hirn nimmt oft nicht das auf, was der Lehrer möchte, sondern andere Dinge, die interessanter sind. Aber vor allem ist es für das Auswendiglernen, das sture Pauken, nicht angelegt. Man kann es sich nicht wie eine Festplatte vorstellen, auf der Daten einfach abspeichert werden. Das Gehirn braucht immer Zusammenhänge.
Unser Hirn ist wählerisch
Auch die bereits verstorbene Vera Birkenbihl ist der Tatsache auf den Grund gegangen, dass man einen Großteil dessen, was man in der Schule lernt, wieder vergisst. Sie kommt zu dem Schluss, dass Schüler nicht desinteressiert, demotiviert oder untalentiert sind. Wenn jemand nichts lernt, liegt das fast immer daran, dass der Lernstoff nicht gut genug vermittelt wird, sprich: dass der Unterricht schlichtweg langweilig ist. Es liegt an der Methode des Referenten, nicht am Thema. Zudem ist unser Gehirn nicht dafür da, sinnloses Wissen aufzunehmen. Genau das passiert aber im Unterricht. Deshalb lernen Kinder außerhalb der Schule mehr als dort: In der Freizeit passieren häufig Dinge, die sie interessieren, denen sie nachgehen möchten. Hier wird ihr Forscherdrang geweckt. Die Kinder sammeln aktiv Wissen an, während sie sich in der Schule im Frontalunterricht eher berieseln lassen. Deshalb fordert Vera Birkenbihl, dass Lernen „geil werden muss“.
Viele von uns haben den einen Lehrer gehabt, der uns für sein Fach begeistern konnte, uns mit seinem Enthusiasmus angesteckt hat, sodass wir immer noch eine positive Verbindung zu dem Thema haben. Was wäre, wenn jedes Fach so unterrichtet würde?
Bildungsoverkill
Leider sieht die Realität anders aus, erst recht seit die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die PISA-Studie eingeführt hat. Wie der Name der Institution bereits vermuten lässt, werden dort vor allem wirtschaftliche Interessen verfolgt: Die Kinder sollen darauf vorbereitet werden, der Wirtschaft als Erwachsene ein möglichst großes Wachstum zu bringen.
Deutschland belegt beim PISA-Test keine Spitzenplätze. Die Frage ist, was das über unser Bildungssystem aussagt. Hier lohnt ein Blick nach China, das Land, das bei PISA-Tests immer wieder ganz oben steht. Das ist erst einmal beeindruckend. Doch bei näherem Hinsehen offenbart sich eine Leistungsmaschinerie ohne Gleichen: Eltern und Großeltern geben einen Großteil ihres Vermögens dafür aus, ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Der Wettbewerb ist groß: Jeder möchte, dass sein Kind was erreicht, seine Prüfungen mit Auszeichnung absolviert. Im Fokus stehen Tests und Wettbewerbe: Kinder werden darauf gedrillt, dass sie dabei möglichst gut abschneiden. Es geht bei diesem Lernprozess nicht um unterschiedliche Meinungen zu einem Thema, um ein Erörtern. Die Standardantwort ist bereits vorgegeben, während der Prüfung muss sie lediglich abrufbar sein. Es gibt viel zu pauken. Deshalb beginnt der Schultag schon um 7.30 Uhr in der Frühe; häufig ist er erst um 20.30 Uhr zu Ende.
Bereits kleine Kinder sind dem Leistungsdruck ausgesetzt. Auf diese Weise ist es möglich, sehr viel aus ihnen herauszuholen. Die Folge davon: Die Kinder können so gut wie nie ausschlafen, haben kaum die Möglichkeit, sich zu erholen, und erleben insgesamt wenige Augenblicke des Glücks. So ist es nicht verwunderlich, dass es in China unter Kindern eine relativ hohe Selbstmordrate gibt.
Das Land wird in den PISA-Tests als Vorzeigeland hochgehalten. Ist die Vorreiterstellung wirklich erstrebenswert? In unserem Nachbarland Frankreich scheint es in dieselbe Richtung zu gehen; dort gibt es die „école maternelle“, den Kindergarten, der die Schule schon im Namen trägt (frz. „école“: Schule). In Frankreich beginnt die Schulpflicht schon mit drei Jahren. Es gibt bereits da einen Lehrplan und sogenannte Erfolgshefte für jeden Schüler. Die Kleinen sitzen diszipliniert an Tischen und gehen einer vorgegebenen Beschäftigung nach. Die Lehrerin ist Respektperson, die nicht mit Vornamen angesprochen werden darf. Manche Kinder verbringen bis zu 10 Stunden in der „maternelle“.
Die Idee hinter dieser Schulform war, erst gar nicht eine Ungleichheit zwischen den Kindern unterschiedlicher Herkunft aufkommen zu lassen: Alle haben durch diese frühe Förderung von Anfang an gleiche Startchancen. Außerdem sollte sich das Kind so an das Leben in der Kollektivität gewöhnen.
Funktionieren sollst du …
Auch wenn sich deutsche und französische Kindergärten unterscheiden, so gibt es doch Ähnlichkeiten im gesamten Europa und in den USA. In Deutschland stammen die Formen der Lehre aus dem alten Preußentum, wo es vor allem um das „Geraderichten“ ging. Aber auch in anderen Ländern brauchte man für Kriegszeiten vor allem junge Männer, die funktionierten. Auch im Zeitalter der Industrialisierung kamen Menschen gelegen, die auf Anweisung simple Tätigkeiten ausführten. Darauf konnte man gut in der Schule vorbereiten. Die Zeiten haben sich mittlerweile zum Glück geändert. Doch nun hat ausgerechnet die Wirtschaft militärähnliche Züge angenommen: Man ist auf der Suche nach Absolventen, die im System funktionieren. Es gilt das Prinzip von „höher, schneller, weiter“. Alles ist immer enger getaktet, muss noch eher fertig werden und mehr Profit abwerfen. Führungskräfte werden zunehmend depressiv, weil sie dem Druck nicht standhalten können.
Immer mehr Menschen fragen sich, ob das wirklich ihr Leben sein soll. Zumal Wachstum ohnehin nicht unbegrenzt möglich ist. Es wird Zeit, sich diese Frage schon für die Bereiche Kindergarten und Schule zu stellen, die im Grunde ebenfalls dem Kapitalismus dienen. Dort werden Kinder auf die vorherrschende Konkurrenzwelt vorbereitet.
Babys haben’s nicht so mit Konkurrenz
Der Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, warum das System überhaupt funktionieren kann und warum Eltern das mitmachen: Sie haben Angst, dass aus ihren Kindern nichts wird. Dabei weiß er, dass man Menschen nicht erziehen kann – man kann sie nur zu etwas einladen. Er nennt das Erziehungskunst. Abgesehen davon widerstrebt das Konkurrenzdenken schon sehr jungen Kindern. Im Mutterleib hatten sie über die Nabelschnur eine enge Verbindung zur Mutter, und dieses Bedürfnis nach Verbundenheit besteht auch nach der Geburt. In Tests konnte bewiesen werden, dass sechs Monate alte Babys kooperativ eingestellt sind. In einem simplen Versuchsaufbau entschieden sie sich immer für die Situation, in der geholfen und unterstützt wurde. Erst weitere sechs Monate später war das Ergebnis nicht ganz so eindeutig: Die Kinder hatten sich an Konkurrenzsituationen aus ihrem täglichen Leben gewöhnt und gaben in einem abschließenden Test teilweise nun auch Konstellationen den Vorzug, in denen gegeneinander gearbeitet wurde. Dieses Verhalten hatten sie sich ihrer Umwelt abgeguckt.
Der Druck, der auf Kindern und jungen Erwachsenen lastet, ist allerdings nicht nur in China zu spüren. Eine Gymnasialschülerin mit sehr guten Noten aus Hamburg beklagte in einem offenen Brief, dass sie kein Leben mehr hat, seit die Gymnasialzeit von 13 auf nur 12 Jahre verkürzt wurde. Ihre Freizeit kam zu kurz, der Spaß – also das, was das Leben lebenswert macht. Ihrer Meinung nach verfehlt die Schule das Ziel, auf das Leben vorzubereiten. Ähnlich sieht es Vera Birkenbihl – sie fordert: Statt Bruchrechnen: Fahrplan lesen, statt deklinieren und konjugieren: bügeln, statt Wurzelziehen: Wurzelgemüse auseinanderhalten können. Und vor allem fordert sie die richtigen Lernmethoden.
In den Flow kommen
Sie meint Methoden, die uns befähigen, uns selbst zu unterweisen. Damit wir wissen, wie man lernt, wo man etwas nachschlagen kann oder was man einen Experten zu seinem Gebiet fragen würde. Überhaupt sind Fragen die Basis, um sein Wissen zu erweitern. Durch das eigenständige Lernen gewinnt eine Person auch an Selbstständigkeit. Vera Birkenbihl wollte endlich vom sturen Pauken wegkommen, denn wer paukt, hat nichts begriffen, sieht die Zusammenhänge und dahinterstehenden Prinzipien nicht. „Je besser wir etwas begriffen haben, desto weniger Arbeit macht die Einspeicherung“, sagte sie. Wichtig ist, auch hier in den Flow zu kommen – manche werden das vom Joggen kennen: Man läuft und läuft, fühlt sich ganz leicht und hat das Gefühl, ewig weitermachen zu können. Ähnliche Glückserlebnisse haben andere bei Computerspielen, in die sie ganz vertieft sind. Das Erstaunliche dabei: Das geht auch beim Lernen! Die Voraussetzung dafür ist, dass das, was wir lernen wollen, uns weder über- noch unterfordert. Sind wir unterfordert, langweilen wir uns. Bei der Überforderung kommt Frust auf. Die Herausforderung muss so gestaltet sein, dass sie immer noch machbar ist.
Wusstest du schon?
In einer Teppichknüpferei in Mexiko schauen die Auszubildenden erst zwei Jahre zu, bevor es für sie selbst ans Knüpfen geht. Dass diese Methode funktioniert, hast du vielleicht schon als Autofahrer beobachtet: Schon als Beifahrer ohne Führerschein hast du durch bloßes Dabeisein gelernt, worauf es im Verkehr ankommt, sodass du später am Steuer nicht bei null angefangen hast.
Raus aus der Komfortzone
Deshalb gilt es, das Lerntempo an das jeweilige Kind anzupassen, denn bei jedem verläuft die Grenze zwischen Über- und Unterforderung woanders. Zuerst fängt jeder klein an: bei den Grundlagen. Erst wenn diese wirklich verstanden sind, kann es weitergehen. Hier hilft ein Blick in unser Gehirn, in dem unter anderem Spiegelneuronen angesiedelt sind. Sie werden immer dann aktiv, wenn wir anderen bei einer Tätigkeit zusehen, dasselbe selbst machen oder auch nur daran denken. Selbst wenn jemand die Tätigkeit nur erwähnt, feuern die Spiegelneuronen. Das Wirkprinzip der Spiegelneuronen lässt sich gut auf den Unterricht übertragen: Wir lernen durch Nachahmung. Doch dazu müssen wir etwas diverse Male beobachtet haben. Für die Schule heißt das im Idealfall: Der Lehrer zeigt etwas, zeigt es wieder und dann noch einmal. Haben die Kinder oft genug zugeschaut, können sie langsam anfangen, selbst erste Schritte zu tun, und zwar in Zeitlupe. Erst wenn es flüssiger läuft, kann das Tempo erhöht werden. Dies gilt für mathematische Gleichungen, das Geigenspiel oder das Tangotanzen. In der bisherigen Praxis sieht es anders aus: Die Lehrerin schreibt etwas einmal an die Tafel; anschließend wird schon eingeübt. Kein Wunder, dass diejenigen, die etwas Zeit für das Verinnerlichen der Inhalte benötigen, abgehängt werden und nicht mehr mitkommen.
Slow, slow, quick, quick
Das langsame Tempo am Anfang des Lernprozesses ist entscheidend. 30 sehr langsame Bewegungen bringen in etwa genauso viel wie 120 schelle. Daher ist das Tai-Chi, eine Art Kung-Fu in Zeitlupe, für die Muskeln ähnlich effektiv wie das deutlich dynamischere Kung-Fu selbst. Sinnvoller ist es auch, am Anfang kurze Trainingseinheiten zu absolvieren – statt einer langen. Denn nach jeder Lerneinheit arbeitet das Gehirn noch eine Weile weiter. Zudem ist es wichtig, das Gelernte nicht nur praktisch zu üben, sondern auch mental. Selbst Topathleten lernen Abläufe, indem sie sich diese im Geiste immer und immer wieder vorstellen oder andere Sportler bei dem, was sie tun, beobachten – eine ideale Ergänzung zum eigentlichen Training. Diese mentalen Übungen haben einen spürbar positiven Einfluss auf ihre Leistung.
Vera Birkenbihl rät, ins Handeln zu kommen, statt nur darüber zu reden – wie es oft in der Schule geschieht. Nur so ist der Lernprozess zielführend. Sie rät zur Übertreibung als Lerntechnik: Auf der ersten Stufe imitiert man das Vorgeführte bloß – um es später zu übertreiben. Denn erst wenn jemand das Wesentliche, den Kern von etwas erkannt hat, kann er es karikieren oder persiflieren. Zum Beispiel indem er ein Lied, das er einübt, mit einer falschen Betonung singt. Eine weitere effektive Lernmethode ist die Variation. Bei einem Musikstück für Gitarre spielt man es am besten noch einmal auf der Blockflöte – oder auf dem Klavier. Diese Übertragung in ein anderes Medium festigt das Eingeübte.
Wusstest du schon?
Kaugummikauen ist gut fürs Gehirn – es wird so mit mehr Sauerstoff versorgt. Das ist nicht nur optimal für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Erst recht wenn sie sich wenig bewegen.
Arme Sprache
Und wie sieht es mit dem Sprachenlernen aus? Zuerst einmal: in Deutschland leider ziemlich schlecht. Die Nachhilfe, die hierzulande beansprucht wird, betrifft hauptsächlich Sprachfächer, sowohl das Deutsche als auch Fremdsprachen. Die Schlussfolgerung daraus könnte sein, die Schüler seien einfach untalentiert. Schaut man aber zu den Nachbarn in den Niederlanden, sieht es ganz anders aus: Dort gibt es viele drei- und viersprachige Menschen. Ist man diesseits der Grenze weniger intelligent oder sprachbegabt? Nein, man lernt hier offensichtlich mit den falschen Methoden.
Effektiver geht es mit der von Birkenbihl: Die Querdenkerin – wie sie selbst auf ihrer eigenen Webpräsenz genannt wird (Querdenken ist im Grunde etwas durch und durch Positives) – hält nichts von Vokabelpauken und Konjugationstabellen. Sie empfiehlt zuerst einmal etwas, was im Sprachenunterricht verpönt ist: die Wort-für-Wort-Übersetzung. Das macht den Aufbau einer Sprache sichtbar. So lernt man, wie sie funktioniert. In dem Video „Von null Ahnung zu etwas Türkisch“ erklärt Birkenbihl, wie wir uns ganz einfach (und gehirngerecht) erste Türkischkenntnisse aneignen, eine im Prinzip leichte Sprache, da man dort alles konstruieren kann. Was heißt: Hier muss der Sprachschüler nicht unzählige Ausnahmen und Abweichungen pauken, wie sie im Deutschen häufig zu finden sind.
Lieber nix Grammatik
Am besten ist es, anfangs nicht zu versuchen, die Grammatik zu verstehen. Besser man nimmt die unbekannte Endung erst einmal so hin und verwendet sie beim Sprechen. Nach drei Monaten, wenn sich diese Form gefestigt hat, können wir immer noch ins Grammatikbuch schauen und verstehen die Erklärung dort viel besser. Birkenbihl rät auch dazu, Endungen nicht gleich anhand der türkischen Wörter zu üben, sondern sich erst einmal deutsche vorzunehmen und dort die türkische Endung dranzuhängen. So konjugiert man das deutsche Verb erst einmal mit der ungewohnten Endung. Auf diese Weise muss der Lernende nicht gleich mit zwei neuen Bestandteilen zurechtkommen: mit dem fremden Wort und der fremden Endung. Sobald man sich an die Konjugation gewöhnt hat, kann auch das türkische Wort ins Spiel kommen.
Auch für die ungewohnte Aussprache des Türkischen mit seinen vielen Ös und Üs hat Birkenbihl einen Tipp parat: die „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ mit der Ö- und Ü-Variante wiederholt singen, um sich an die Vokalhäufung zu gewöhnen. So einfach ist das.
Mehr Toleranz – auch bei Fehlern
Vor allem gilt: Keine Angst vor Fehlern. Kleine Fehler machen in der Kommunikation nichts aus. Der Muttersprachler hört ohnehin das, was er hören soll, und wird in seinem Gehirn die Abweichungen geradebügeln. Generell nimmt die Angst vor Fehlern und davor, bewertet zu werden, mit steigendem Alter zu. Das Baby, das laufen lernt, hat keine Angst, etwas falsch zu machen – das Hinfallen gehört dazu. Das Kind versucht aufzustehen, fällt wieder auf den Po, gibt aber trotz dieses „Fehlers“ nicht auf und macht weiter. Noch unzählige wackelige Aufstehversuche und Stürze sind notwendig, bis es endlich laufen kann. Durch diese Furchtlosigkeit hat ein Kind einen unglaublich komplexen Vorgang gelernt, in dem die Gravitationskonstante, die Hebelgesetze und Differenzialgleichungen eine Rolle spielen: das Gehen auf zwei Beinen. Wer weiß, ob wir Erwachsenen uns unter diesen Voraussetzungen überhaupt getraut hätten, gehen zu lernen.
Kinder haben noch keine Angst vor dem Scheitern, sind deshalb deutlich kreativer. Allerdings werden in der Schule Fehler nicht mehr toleriert, stattdessen sofort korrigiert – die Kreativität nimmt als Folge davon deutlich ab. Vera Birkenbihl spricht sich dafür aus, Kinder beim Lernen gar nicht zu korrigieren. Damit würde man den unbewussten (einfachen) Lernprozess stoppen und ihn bewusst machen.
Ein Kind muss ein gutes Umfeld haben, das nicht nur Fehler zulässt, sondern auch an seine Fähigkeiten glaubt, damit es sich optimal entwickeln kann. Hat es eine positive Einstellung zum Lernen, wird es auch erfolgreich sein. So konnte man anhand von Untersuchungen nachweisen, dass Kinder, die den Wunsch hatten, sich in einem bestimmten Bereich zu verbessern, gleich in allen anderen schulischen Bereichen besser wurden. Dabei merkten sie nämlich: Wenn ich auf einem bestimmten Gebiet besser werden will, klappt das mit der entsprechenden Übung auch. Wenn ich es hier schaffe, schaffe ich es auch in anderen Bereichen. Daher wäre es ratsam, Schülern Mut zu machen. Die Konsequenz davon wäre ein höherer Notendurchschnitt.
Auch bei diesem Prozess spielen die Spiegelneuronen eine wichtige Rolle, sind sie doch mit Gefühlen verbunden. Immer wenn wir etwas Negatives erwähnen – über etwas meckern, jemanden kritisieren oder über ihn herziehen – werden die dazugehörigen Gefühle auf den Plan gerufen. Deshalb sollte in der Schule – oder besser schon im Elternhaus – eine positive Stimmung dem Lernen gegenüber herrschen.
Dass das funktioniert, zeigt der Fall von Pablo Pineda Ferrer, dem ersten Europäer mit Down-Syndrom, der ein pädagogisches Studium absolviert hat. Menschen mit Trisomie 21 galten lange Zeit als unbeschulbar. In jungen Jahren hatte Pablo einen tollen Sonderschulpädagogen als Lehrer gehabt, der an ihn geglaubt hat. Die positiven Erwartungen des Lehrers haben, wie man sieht, einiges bewirkt.
Was bist du als Mensch wert?
Aber nicht nur die Erwartungen Einzelner, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen haben einen Einfluss darauf, was aus jemandem wird – ob es ihm gutgeht im Leben, ob er ein finanzielles Auskommen hat und, und, und. Denn nicht jeder Abschluss ist gleichwertig. Ein Arzt oder ein Rechtsanwalt hat ein gutes Ansehen – nicht ganz so klar ist es da bei einem Handwerker. Manche Begabungen werden als höherwertiger anerkannt als andere. Menschen mit einem Hauptschulabschluss verdienen in Deutschland oft nicht ausreichend Geld, um sorgenlos zu leben. Wie in dem Film „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer dargestellt wird, sind manche so frustriert, dass für sie der Schritt in die Kriminalität gar nicht so abwegig scheint. Aus dieser Spirale wieder herauszukommen, ist oft schwer. Das Problem ist in Deutschland massiver, als es auf den ersten Blick scheint: Viele Arbeitslose mit geringen Abschlüssen tauchen in der Arbeitslosenstatistik gar nicht erst auf, weil sie zum Beispiel 1-Euro-Jobber sind.
Es muss ein Umdenken stattfinden, sodass Menschen ohne exzellente Abschlüsse ebenfalls einen gewissen Status haben. Denn der fehlende oder „geringere“ Abschluss sagt nichts darüber aus, ob sie begabt sind oder nicht. Außerdem garantierten eine gute Schulbildung und eine gute Note im Abitur nicht, dass man nach einem Medizinstudium hervorragender Chirurg wird – und trotzdem wurden Abiturienten ohne Einserschnitt lange Zeit nicht zum Medizinstudium zugelassen. Deshalb ist es eine gute Idee, jede einzelne Begabung zu fördern. Das geht allerdings nur bei einer Umstellung des Schulsystems: Momentan zielt der Unterricht darauf ab, zukünftige Universitätsprofessoren heranzubilden – dabei werden es die wenigsten tatsächlich.
Sir Ken Robinson, britischer Autor und Berater, der zahlreiche internationale Projekte zum Thema Kreativität geleitet hat, spricht von einer Hierarchie der Schulfächer: Ganz oben steht die Mathematik, danach kommen die Sprachen, dann die künstlerischen Fächer. Er hält die Mathematik durchaus für sehr wichtig. Dieselbe Wichtigkeit schreibt er jedoch dem Tanz zu. Zur Illustration dessen beschreibt er den Fall von Gillian Lynne, die als Schülerin unter einer Aufmerksamkeitsstörung litt. Zum Glück hatte sie einen Lehrer, der ihr Talent fürs Tanzen erkannte. Die Mutter schickte sie auf eine Tanzschule – und so wurde Gillian Lynne einige Jahre später als Choreographin der Musicals „Cats“ und „Phantom der Oper“ erfolgreich.
Tanzen, musizieren, malen
Auch Arno Stern, ein in Deutschland geborener Pädagoge, hält das Tanzen, Musizieren und Malen für essenziell, wenn es um die kindliche Entwicklung geht. Durch diese Ausdrucksformen werden Kinder zu erfüllten Menschen, die Großes vollbringen können. So gründete er in Paris den „Malort“, ein Atelier, in dem Kinder, aber auch Erwachsene nach Lust und Laune dem „Malspiel“ nachgehen können: Sie malen einfach das, worauf sie Lust haben. Aus Sterns Sicht sollte nicht das Leben ernst genommen werden, sondern gerade das Spiel. Denn hier stehen der Genuss und die Aktivität im Vordergrund, nicht die Herstellung oder Produktion von etwas.
Den Malort betreibt Stern schon seit 1949 – und er bemerkt eine Entwicklung: Waren die Bilder früher fantasievoll, experimentell und spielerisch, so wirken sie heute zunehmend konstruiert. Die Kinder malen nicht mehr spontan; sie tun es nach den Regeln der Erwachsenen. Sie komponieren das, was man ihnen beigebracht hat. Die Bilder aus der Gegenwart haben nichts Freudvolles mehr, wirken wie Gemälde. Das Kind verliert immer mehr von seinem Kindsein, wird zum Erwachsenen, ist wie erdrückt von der Theorie und der Last dessen, was man ihm beigebracht hat. Das Gravierendste aus Sterns Sicht ist, dass man die Kinder darauf trainiert, einen Auftrag zu erfüllen. Sie werden geformt, damit sie den Vorstellungen der Erwachsenen entsprechen. Diese Kinder sollen ins System hineinpassen. Es geht nicht darum, sie zu Menschen mit einem starken Willen heranzubilden. Sondern zu solchen, die unzufrieden genug mit ihrem Leben sind, sodass sie sich dem Konsum zuwenden.
Sterns Frau ist der Ansicht, dass ein Kind nach der Geburt erst einmal „geboren“ werden muss, dass man es sich frei entfalten lassen sollte, damit es herausfindet und entscheidet, was es möchte. Ohne ihm die Kindheit zu stehlen. Dieses Glück sind wir Erwachsene ihm schuldig.
Waldorf ist nicht nur Namen tanzen
Eine Schulform, die das berücksichtigt, gibt es bereits: die Waldorfschule – und den Waldorfkindergarten. Neben dem sachbezogenen Unterricht wird künstlerisch-handwerklichen Lerninhalten ein hoher Stellenwert beigemessen. Die Kinder und Jugendlichen sollen nicht nur im intellektuellen, sondern auch im kreativen, künstlerischen, praktischen und sozialen Bereich ausgebildet werden. Daher haben alle Schüler Handarbeitsunterricht, in dem sie gemeinsam nähen, schneidern und stricken, und Werkunterricht, wo wiederum gesägt, gehämmert und gefeilt wird. Auch die Fächer Gartenbau und Eurythmie, wo Sprache und Musik durch Bewegung sichtbar gemacht werden, gehören zum Lehrplan. Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass die Kinder durch diese künstlerischen Formen der Beschäftigung Fähigkeiten erwerben, die weit über diese Tätigkeit hinausgehen.
Das Besondere an der Schulform ist, dass die Schüler als Klasse gemeinsam 12 Schuljahre durchlaufen – ohne Benotung und damit auch ohne Sitzenbleiben. Die Waldorfschule soll nicht vorrangig auf die Universität vorbereiten – auch ein Hauptschul- und Realabschluss sind hier möglich –, sondern vor allem in den ersten Jahren die Freude am Lernen wecken. Die Kinder sollen Eigeninitiative entwickeln. Nicht unter Leistungsdruck, sondern weil sie sich für verschiedene Themen begeistern. Der Unterricht hat immer einen Bezug zur Lebenswelt der Schüler. Wichtig ist auch, Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge aufzuzeigen. Insgesamt geht es nicht darum, ausschließlich Wissen zu vermitteln, sondern die Gesamtentwicklung jedes Einzelnen in einem bestimmten Zeitraum zu begleiten.
Ein wichtiges Element in der Waldorfschulpädagogik ist der Epochenunterricht. Dabei beschäftigen sich die Schüler eine Zeit lang hauptsächlich mit einem Fachgebiet: Beispielsweise arbeiten sie mehrere Wochen intensiv an Themen aus dem Bereich der Mathematik, Erdkunde, Geschichte – oder mit einer Sprache. So arbeiten sie zwei Stunden täglich an einer mathematischen Fragestellung, gewinnen so einen vertiefenden Einblick – bis nach drei Wochen wieder ein anderes Fachgebiet dran ist.
Gesunder Körper? Gesunder Geist!
Auch die Salutogenese hat in den Waldorfschulen und -kindergärten einen hohen Stellenwert. Hier geht es darum, gesund zu sein und es zu bleiben, um Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. Diese Ausgeglichenheit entsteht, wenn Körper und Geist im Einklang sind. Angestrebt ist ein Gleichgewicht über viele Bereiche hinweg: zwischen Aktivität und Passivität, Anspannung und Entspannung, Konzentration und Kontemplation. Aber auch zwischen den Interessen des Ichs und dem der anderen. Als Teil der Salutogenese gibt es jeden Morgen und immer dann, wenn Bedarf entsteht, vitalisierende Übungen: Die Schüler rezitieren, klatschen oder entspannen ihre Muskeln und ihren Körper. Erst dann werden sie wieder intellektuell gefordert.
So anders die Waldorfpädagogik ist – ganz frei und unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen ist sie dennoch nicht: Am Ende werden die Waldorfschüler wie andere Gleichaltrige Prüfungen unterzogen, die für alle gelten. Hier müssen sie Leistung zeigen, sofern sie einen bestimmten Abschluss anstreben. Zumindest haben sie aber auf ihrem Weg dorthin die richtige Einstellung und vor allem Freude am Lernen mitbekommen.
Pädagogische Hilfe zur Selbsthilfe – Montessori
Ein ähnliches Konzept haben die Montessorischulen und -kindergärten. Auch dort steht der einzelne Schüler mit seiner Persönlichkeit im Vordergrund. Es wird davon ausgegangen, dass das Kind einen inneren Bauplan hat – mit Stärken, Schwächen und individuellen Fähigkeiten. Die Aufgabe des Lehrers ist, ihm Hilfestellung bei seiner Entfaltung zu geben, damit dieser Bauplan umgesetzt werden kann. So lautet der Leitsatz der Montessori-Pädagogik „Hilf mir, es selbst zu tun“.
Doch was hat es mit dieser Hilfe zur Selbsthilfe genau auf sich? Hier ist vor allem die Rolle des Lehrers, des Erziehers und vorher schon der Eltern entscheidend. Aus Montessori-Sicht ist es nicht nötig, das Kleinkind dauerhaft zu bespaßen. Vielmehr sollte ihm die Möglichkeit gegeben werden, seine Interessen selbst zu entdecken. Auch der Lehrer bietet kein „Programm“ und ist kein Wissensvermittler, sondern beobachtet den Schüler und interpretiert dessen Verhalten. Er ist zur Stelle, wenn er etwas Neues lernen möchte, und bereitet die Lernmaterialien vor. Dabei lässt er dem Kind freie Hand dabei, was ihn interessiert, ermuntert es dabei, bei einer Tätigkeit zu bleiben und sie zu Ende zu bringen.
So lernen Kinder aus der eigenen Motivation heraus, können sich auf ihre Talente und Bedürfnisse konzentrieren und sind selbstbestimmt. Sie können sich in ihrem eigenen Rhythmus entwickeln und werden nicht miteinander verglichen. Daher ist auch hier keine Benotung notwendig.
Eins, zwei oder drei?
Selbstbestimmtes Handeln bedeutet auch, dass Kinder selbst entscheiden können. Sie werden an vielen Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt – ob es um einen gemeinsamen Ausflug geht, das Lied, das man als Nächstes singen möchte, oder darum, welches Bild im Klassenzimmer hängen soll. Für diese Art der Partizipation werden die Kinder zuerst einmal umfassend informiert und aufgeklärt, sodass sie sich eine eigene Meinung bilden können. Anschließend sind sie aufgerufen, sich frei zu dem Thema zu äußern; ihre Meinung hat Gewicht.
Das Schwierige dabei ist, dass Kinder dennoch nicht über alles entscheiden können, denn es gilt, sich an festgelegte Normen und Werte zu halten. Entscheidungen von Kindern sind nicht immer reflektiert und entstehen sehr spontan, weil ihr Entwicklungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Das ist nicht in jeder Situation von Vorteil. Daher muss die Lehrkraft hier abwägen, wie stark sie auf den Willen der Kinder eingeht.
Lässt man Kinder sich frei entwickeln, wachsen sie zu selbständigen und selbstwirksamen Persönlichkeiten heran. Natürlich bedeutet Selbstbestimmtheit auch, dass das Kind auf Probleme treffen wird. Mit einem Unterschied: Der Umgang damit wird ihnen nicht abgenommen; die Probleme werden nicht sofort von den Eltern gelöst. So lernen Kinder, nach Lösungen für sich und andere zu suchen, und meistern erste Schwierigkeiten. Auch wird es vorkommen, dass sie scheitern, wie man auch später im Erwachsenenleben in manchen Situationen scheitert. Dabei sammeln die Kinder aber wertvolle Erfahrungen, die sie im Leben weiterbringen.
Stärken stärken
Der Fokus der Montessoripädagogik liegt nicht darauf, was den Kindern fehlt, sondern auf ihren Talenten und Fähigkeiten, die gestärkt werden. Die Erwachsenen ermuntern und fördern die Kinder, sodass sie auf den Gebieten, die ihnen liegen, noch besser werden. Hier geht es nicht darum, grundlos zu loben, sondern durch eine ehrliche Unterstützung positiv auf das Kind einzuwirken.
Das Montessorikonzept greift bereits nach der Geburt. Gerade in den ersten sechs Lebensjahren ist ein Kind empfänglich für Reize aus seiner Umwelt. Hier entwickelt sich seine Persönlichkeit, aber auch seine Fähigkeiten. In diesen Jahren zeigt es eine hohe Lernbereitschaft.
Weg mit dem starren Regelwerk
Maria Montessori war eine der ersten Frauen, die ein Medizinstudium mit einem Doktortitel abgeschlossen hat. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sie einen neuen pädagogischen Ansatz, der das Kind als Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen sollte. Sie wollte sich damit vor allem von den tradierten Lehrmethoden abgrenzen, die strenge Regeln beim Lernen vorsahen. Regeln, die von Erwachsenen stammten und wenig Bezug zur Lebenswirklichkeit der Kinder hatten.
Das Konzept trägt Früchte, denn es gibt viele berühmte Montessorischüler: von den beiden Prinzen aus dem britischen Königshaus über den Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez, den Künstler Friedensreich Hundertwasser bis hin zu dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Wobei nicht alle Kinder gut mit dieser Selbständigkeit zurechtkommen. Lernen in Eigenregie bedeutet auch, sich selbst um den Lernprozess zu kümmern und die gewohnte Konsumhaltung aufzugeben. Das kann Kinder mitunter verunsichern.
Oder vielleicht doch ganz ohne Schule?
Ein Kind, das gar nicht erst auf eine Schule geschickt wurde, ist der Sohn von Arno Stern. Die Eltern ließen ihn sich ganz frei entwickeln. Er hatte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit, denn so etwas wie die Angst vor Prüfungen kennt er durch seinen besonderen Werdegang gar nicht. Sein Vertrauen in sich selbst konnte er sich bewahren, denn er wurde nie verglichen, musste nie etwas beweisen. Seine Eltern haben nicht von ihm verlangt, etwas zu lernen, das ihn nicht interessiert; so konnte er Dingen nachgehen, die ihn faszinierten. Lesen hat er erst sehr spät gelernt – an diesem Punkt waren seine Eltern schon beunruhigt. Doch irgendwann kam der Wunsch ihn ihm auf, die Fertigkeit zu lernen. Er musste es einfach, um weiterzukommen. Weil er wissen wollte, wie eine Miniatureisenbahn funktioniert – dafür hat er sie auseinandergeschraubt. Für weiterführende Informationen war die Fähigkeit zu lesen unabdingbar. Also lernte er lesen.
Insgesamt war das Lernen für ihn etwas, das nebenbei passierte. Er lernte immer, wenn er Lust darauf hatte. So übte der gebürtige Franzose unter anderem bis zu sechs Stunden am Tag Deutsch, einfach weil er Spaß daran hatte. Heute ist André Stern Gitarrenbaumeister, Musiker und Buchautor – und spricht gut deutsch. Das, was ihn geprägt hat, waren die große Freiheit und die Fähigkeit, sich zu begeistern.
Was, wenn Hänschen nichts lernt?
Was genau passiert beim Lernen im Gehirn? Um das zu veranschaulichen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das Hirn bei der Geburt schon „fertig“ ist. Alle Gehirnzellen sind bereits vorhanden. Was fehlt, sind die Verbindungen zwischen ihnen. Und genau das passiert beim Lernen: Es werden neue Verbindungen gelegt, neue Spuren. Immer wenn wir einer Tätigkeit nachgehen, werden diese Spuren entweder neu angelegt oder gefestigt. Deshalb ist das Umlernen auch so schwierig: Hier müssen bereits vorhandene Spuren, die Gewohnheiten darstellen, durch andere ersetzt werden. Nutzen wir einen Bereich unseres Hirns nicht, weil wir eine Tätigkeit nicht mehr ausführen, werden die Spuren wieder schwächer.
Das Erstaunliche und zugleich Wichtige ist, dass das meiste Lernen in den ersten Lebensjahren passiert. Ein Kind lernt in Riesenschritten; es eignet sich viel Wissen und viele neue Fähigkeiten an. Erst dann kommt die „Feinjustierung“, dann geht es um Details. Das Hirn reguliert den Lernprozess kleiner Kinder, indem es dafür sorgt, dass sie zuerst Einfaches aufnehmen, nach und nach dann Komplexeres. Nach einigen Jahren wird die Lerngeschwindigkeit von Hirn aktiv heruntergeregelt, damit man sich ab da in kleinen Schritten an die Lerninhalte herantasten kann. Der Vorteil in diesem späteren Stadium ist, dass das Hirn sich ab hier Dinge auch gut und dauerhaft merken kann – das war vorher nicht der Fall.
Ü17 und schon alt
Ältere Menschen sind nur noch bei 10 Prozent der Lerngeschwindigkeit von Kindern. Mit dem Begriff „ältere Menschen“ sind alle über 17-Jährigen gemeint. Das Hirn dieser „älteren Herrschaften“ lernt zwar immer noch Neues, allerdings ist der Prozess deutlich verlangsamt. Also steckt tatsächlich doch etwas in dem Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“. Erwachsene eigenen sich neues Wissen und neue Fertigkeiten hauptsächlich dadurch an, indem sie die Spuren im Gehirn, die schon vorhanden sind, ein wenig variieren.
Wusstest du schon?
Das Gehirn frischgebackener Mütter wird komplett umgebaut. Deshalb sind sie in den ersten sechs Wochen nach der Entbindung geistig „nicht ganz auf der Höhe“.
Aber dann! Sobald das Hirn umgebaut ist, ist es leistungsfähiger als zuvor.
Ein anschauliches Beispiel, wie das Gehirn funktioniert: Bereits im Alter von 7 Monaten erkennt ein Baby allgemeine Strukturen in der Sprache, es kennt erste simple Grammatikregeln. Die musste es aber nicht aktiv lernen; das Gehirn hat sie sich nebenbei angeeignet. Mit sechs Jahren beherrscht ein Kind alle grammatischen Regeln, einfach weil es die gesamte Zeit über von seiner Muttersprache umgeben war. In jungen Jahren lernen Kinder daher problemlos eine Fremdsprache. Ein 70-Jähriger hingegen, der nur seine Muttersprache spricht, wird Schwierigkeiten dabei haben. Eine andere Person im gleichen Alter, die bereits vier Fremdsprachen kennt, kann eine neue Sprache vergleichsweise einfach und schnell erlernen, weil sie auf bereits vorhandene Spuren im Gehirn zurückgreifen kann; sie braucht keine sechs Jahre dafür wie ein Baby.
Paradoxer Schuhkarton
Manfred Spitzer bezeichnet unser Gehirn als „paradoxen Schuhkarton“: Je mehr wir dort in jungen Jahren hineinpacken, desto mehr passt auch später hinein. Deshalb sollten Kinder schon früh anfangen zu lernen und vor allem das Richtige lernen. Je früher man als Eltern oder Erzieher in die kindliche Entwicklung eingreift und Lernprozesse fördert, desto besser. Denn die Strukturen im Hirn, die nicht bis zum Alter von 17 Jahren angelegt wurden, sind nur schwer zu bilden. Gerade deshalb ist es so dramatisch, dass Kinder in einigen Ländern keine Bildung genießen können, weil sie schon sehr früh zur finanziellen Versorgung der Familie beitragen müssen.
Wusstest du schon?
Es ist sinnvoll, maximal zwölf Stunden vor dem Schlafengehen zu lernen. Wenn wir das, was wir uns aneignen wollen, wirklich begriffen haben, wird unser Gehirn die nötigen Wiederholungen selbst vornehmen – anschließend sortiert sich alles im Großhirn. Deshalb ist es gerade in Prüfungsphasen wichtig, mehr zu schlafen. Bei einem Schlafmangel wiederum wird nicht alles vom Kurzzeitgedächtnis ins Großhirn transportiert – das Lernen war zum Teil umsonst.
Gerade in der Kita, im Kindergarten und in der Grundschule findet die Art von Lernen statt, die Auswirkungen auf unser späteres Leben hat. In diesen Institutionen legen die Lehrer und Erzieher die Grundlagen für das lebenslange Lernen. Da Wissen gerade in der heutigen Zeit immer schneller veraltet, ist es wichtig, Kindern Lust auf einen fortwährenden Lernprozess zu machen und sie darauf vorzubereiten. Wer lernfähig und wissbegierig bleibt, kommt in der heutigen (Arbeits-)Welt optimal zurecht. Aber gerade diese wichtige Fähigkeit wird in der Schule bisher nicht vermittelt.
Kita first
Da die Anfänge entscheidend sind, sollten bereits in der Kita die Grundlagen für das lebenslange Lernen gelegt werden. In Deutschland gestaltet sich das schwierig, denn Erzieher werden unterdurchschnittlich bezahlt. Im Vergleich zum einem Universitätsprofessor verdient auch ein Grundschullehrer deutlich weniger, obwohl seine Leistung vor diesem Hintergrund ungleich wichtiger ist. Problematisch ist auch, dass in Deutschland – im Gegensatz zum Nachbarland Frankreich – der Kindergarten nicht kostenlos ist.
Das System ist verbesserungswürdig. Das zeigt nicht zuletzt die eingangs erwähnte Tatsache, dass vergleichsweise viele Kinder nicht einmal einen grundlegenden Abschluss wie den Hauptschulabschluss erreichen.
Eine Frage, die sich bei der frühen Förderung stellt, ist oft: Sollen in den ersten Lernjahren digitale Medien eingesetzt werden? Darauf hat der Neurobiologe Manfred Spitzer eine klare Antwort: Nein. Ganz kleine Kinder brauchen sensorische Reize: Sie wollen riechen, schmecken, fühlen. Das alles bieten Tablets und Laptops nicht. Fingerspiele sind da eine deutlich bessere Alternative. Denn anhand der Finger lernt man zählen: Hände hängen neurobiologisch mit Zahlen zusammen. In wissenschaftlichen Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass das Zahlenlernen anhand der Finger einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf hat, wie wir Erwachsene mit Zahlen umgehen. Deshalb sollten solche traditionellen Lernmethoden definitiv beibehalten werden.
Und nun?
Du fragst dich jetzt sicher, was zu tun ist. Wie unsere Kinder sinnvoller lernen können. Zuerst einmal müssten die heutigen Lehrmethoden unter den beschriebenen Gesichtspunkten gründlich überarbeitet werden. Sie funktionieren nur bedingt. Sobald etwas als überholt und nicht zielführend erkannt wird, ist es auf jeden Fall ratsam, die Methode zu wechseln. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre, den Wettbewerb abzuschaffen und Kinder zu neugierigen, wissbegierigen und kreativen Menschen heranzubilden. Solchen, die ihre Interessen verfolgen. Denn wer das tun darf, was er am besten kann, wird auch richtig gut darin. Und davon haben dann wiederum alle etwas.
Warum haben wir diesen Artikel geschrieben?
Wir setzen uns täglich damit auseinander, was Kinder für eine gute Entwicklung brauchen, was ihnen guttut und zugleich Spaß macht. All diese Erkenntnisse fließen in unsere Produktentwicklung ein. Denn um wirklich gutes Spielzeug konstruieren zu können, muss man Kinder und ihre Bedürfnisse gut kennen. Und wir denken, das gelingt uns ziemlich gut.
Wie alternatives Lernen ganz konkret aussehen kann, erfährst du im Blogartikel „Eigentlich finde ich Schule ganz gut“.
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Quellen
- George Land. Evidence that children become less creative over time (and how to fix it)
- Ken Robinson sagt: Schule erstickt die Kreativität
- Manfred Spitzer. Wie Kinder lernen und was man darüber wissen sollte. Vortrag in Düsseldorf, 23.3.2012
- Vera F. Birkenbihl. Pauken. Elternnachhilfe. mvg Verlag, 2. Aufl., 2020.
- Vera F. Birkenbihl. Von null Ahnung zu etwas Türkisch 2007
- Erwin Wagenhofer. Alphabet: Angst oder Liebe. Film, Deutschland, 2014.
- Die Schule: die école maternelle. Karambolage. arte
- Yakamoz Karakurt. Mein Kopf ist voll!
- Vera F. Birkenbihl. Offizielle Website
- Bund der freien Waldorfschulen
- Montessori-Schule
- Montessori Pädagogik. Montessori Lernwelten
- Empowerment in der Montessoripädagogik. Montessori Lernwelten
- Berühmte Montessori-Schüler. Montessori Fachoberschule Franken
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